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Vor zwei Jahren erhielt ich die erfreuliche Nachricht, endlich eine Gastfamilie in Tunesien gefunden zu haben. Ich bekam das Dokument mit allen Informationen und einem hübschen Bild der lächelnden tunesischen Familie, bei der ich die nächsten zehn aufregendsten Monate meines Lebens in Houmt Souk, Djerba, verbringen würde.

Am Anfang war es mir unmöglich, mir auch nur ansatzweise vorzustellen, was auf mich zukommen würde. Von einem Tag auf den anderen wurde ich aus meinem Schweizer Alltag gerissen und lebte mich in das komplett neue tunesische Umfeld ein. Der Kulturschock war riesig. Angetrieben von meiner Neugier und den vielen Erwartungen, die ich an mich selbst hatte, machte ich einen Schritt nach dem anderen, um mich zu integrieren. Niemals hätte ich gedacht, welche Veränderungen ich bis zu meiner Rückkehr machen würde.

Heute kann ich mir nicht vorstellen, wie lange ich wirklich an diesem Ort gelebt habe. In einem Land, das zwar nicht besonders weit entfernt ist, aber ganz anders funktioniert. Vom Schulsystem über das Essen bis zur Sprache und Religion, nichts war so, wie ich es aus der Schweiz kannte.

Ich lebte auf der Ferieninsel Djerba, die sich im Süden Tunesiens befindet. Die Landschaft dort ist trocken, flach und karg. Anders als in der Schweiz, freuten sich die Menschen jedes Mal, wenn es endlich wieder regnete und jeder Fleck Grün wurde wertgeschätzt. Mein Haus war etwa eine halbe Stunde zu Fuss von der Küste entfernt, und in zehn Minuten erreichte ich mit dem Fahrrad mein Gymnasium im Zentrum von Houmt Souk. Mit dem Schulbeginn begann auch meine grösste Herausforderung: die Langeweile. Zum einen konnte ich dem Unterricht nicht folgen. Ich besuchte nur Fächer, in denen die Unterrichtssprache Französisch war, was schon ein grosses Hindernis war. Da jedoch grösstenteils der tunesische Arabischdialekt gesprochen wurde, half mir das leider auch nicht weiter. Und zum anderen waren jetzt alle meine Freunde und Klassenkameraden immer mehr mit Hausaufgaben beschäftigt, besonders in Prüfungsphasen erreichte ich die Tiefen meines Austauschjahres.

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So schwer dies auch gewesen sein mag, ich lernte etwas sehr Wichtiges: mich selbst zu beschäftigen und mir einen Alltag zu schaffen, der mir gefiel. Etwa nach vier Monaten beschloss ich, diese Zeit zu nutzen und ernsthaft den Arabischdialekt zu lernen. Dies war ein grosser Wendepunkt in meinem Austauschjahr. Ich sagte meiner Gastfamilie, sie sollten mit mir nur noch auf Arabisch kommunizieren, und verbrachte auch die Schulzeit häufig damit, meine eigenen Quizlet-Sets auswendig zu lernen. Anfangs war die alltägliche Kommunikation äusserst anstrengend und ich verlor die Hoffnung, den Dialekt gut zu meistern. Doch mit der Zeit ging es immer besser. Jede Woche konnte ich zurückschauen und erkennen, wie viele neue Sätze und Wörter ich gelernt hatte. Es ist erstaunlich, wie viele Türen dies geöffnet hat. Auf einmal konnte ich sogar mit Einheimischen irgendwo am Rand der Sahara, die womöglich noch nie mit einem Europäer gesprochen hatten, kommunizieren und meine Geschichte erzählen. Warum ich aus einem der reichsten Länder ausgerechnet hierhergekommen bin und mich entschieden habe, die Umgangssprache zu lernen. Die Gastfreundschaft und Offenheit waren unbeschreiblich. Sehr häufig wurde ich eingeladen und in jedem Haus mit offenen Armen empfangen. Alle waren glücklich zu sehen, wie ich mich in die Kultur integrierte und waren immer interessiert an mir. Besonders meine Gastfamilie: von Anfang an wurde ich wie ein Familienmitglied aufgenommen. Trotz der vielen Unterschiede in der Weltanschauung oder im Glauben war ich stets willkommen. Es ist unglaublich wie viele gute Erinnerungen mir meine Gastfamilie gegeben hat, wie oft sie für mich da war, mir geholfen hat, die Sprache zu lernen, und jeden Tag leckeres Essen kochte. Sie verhalf mir zu einem noch tieferen Einblick in tunesische Traditionen. Ich hatte die Chance, an zwei Hochzeiten teilzunehmen, den Ramadan mitzuerleben und konnte an den zwei grossen muslimischen Feiertagen Eid-al-Adha und Eid-al-Fitr teilnehmen. Mit meiner Gastfamilie habe ich immer noch Kontakt und gehe sie diesen Sommer wieder mit grosser Vorfreude besuchen, dazu knüpfte ich auch eine meiner engsten Freundschaften mit einem anderen Austauschschüler, die sich bis heute aufrecht erhalten hat.

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Ich denke, jedes Austauschjahr birgt Herausforderungen und Hindernisse, aber auch riesige Chancen, Neues zu erleben und zu erlernen. Einerseits musste ich auf vieles verzichten. Ich hatte weniger Freiheiten und konnte weniger selbständig Sachen unternehmen. In vieler Hinsicht war ich gezwungen, aus meiner Komfortzone herauszukommen. Andererseits gab mir genau dies die Möglichkeit, über mich hinauszuwachsen und die Welt aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen. Ich bereue keine Sekunde meines Austauschjahres und würde es jedem und jeder weiterempfehlen. Alle können davon profitieren. Es ermöglichte mir, die Ferieninsel Djerba nicht oberflächlich wie ein Tourist zu erleben, sondern in die Kultur einzutauchen und es zu meinem Zuhause werden zu lassen.